
Im Norden des Subkontinents, 2.100 Meter über dem Meeresspiegel, erwartet uns Reisende ein ganz besonderes, anderes Stück Indien. Ein Stück, in dem das koloniale Erbe des British Raj ein wenig stärker überdauert hat, als in anderen Teilen des Landes: Shimla, die kleine Hauptstadt Himachal Pradeshs. Doch die Stadt bietet mehr als Tea Time und schnieke Fachwerkhäuser im Tudor-Stil vor beeindruckendem Bergpanorama.
Allein die Anreise ist eine Attraktion: Mit der als Welterbe anerkannten Schmalspurbahn geht es über 96,5 Strecken- und 1,4 Höhenkilometer langsam – wirklich langsam – aufwärts. In beinahe sechs Stunden überqueren wir 864 Brücken, durchfahren 102 Tunnels und 919 Kurven und halten an 18 Stationen, während an den Fenstern Vegetationszonen, Alltagsszenen und Fotopanoramen in endloser Abfolge vorbeiziehen. Oben angekommen und die ersten Atemzüge der kühlen Luft eingeatmet, umweht uns schon kurze Zeit später, im Woodville Palace Hotel, ein erster Hauch vergangener Zeiten.

Das Interieuer der Zimmer und Suiten, der umgebende Park – ja das ganze Flair des Hauses – versprüht einen Charme, der uns in die Ära vor der Unabhängigkeit Indiens eintauchen lässt. Eine Epoche, die von ihrem architektonischen Erbe und Teilen der Infrastruktur einmal abgesehen, ganz sicher nicht die besten Seiten europäischen Schaffens hervorbrachte. So durften die indischen Einwohner die feine Stube der Stadt zwischen "Mall" und "Ridge" bis nach dem 2. Weltkrieg nicht betreten. Und selbst danach, bis 1947, ausschließlich in westlicher Kleidung.
Der Bergrücken der Ridge, der uns bei klarem Wetter einen Blick auf die endlose Kette der gar nicht so fernen 7.000er erlaubt, ist durchgängig von baulichen Ensembles aus dem 19. Jahrhundert geprägt. Ob Christ Church, Musikpavillon, Postamt oder Gaiety Theater, die ganze Oberstadt präsentiert uns einen einmaligen Architekturmix aus vielfach alpin-angehauchtem historisierenden Tudorstil. Apropos Gaiety Theater: Ein Besuch des von Laiendarstellern bespielten Hauses lohnt. Auch ohne des Hindi mächtig zu sein, fühlt man sich in den kleinen Logen vom ersten Akt an wohl und wird beinahe wie ein Staatsgast behandelt... Aber Vorsicht: Auch in den Wintermonaten, in denen in Shimla durchaus Schnee liegen kann, werden die Räumlichkeiten nicht beheizt! Die dicke Jacke also lieber nicht an der Garderobe abgeben.


Nach einer launigen Vorstellung und einer erholsamen Nacht im Woodville warten am zweiten Tag des Aufenthalts spannende Kontraste in direkter Nachbarschaft auf uns. Aber losgehen soll es wieder auf die Britische Art. Hierfür bietet sich kaum ein Ort in Shimla besser an als das Indian Coffee House. Hier servieren Kellner in weißen Uniformen Tee oder Kaffee zum zweiten Frühstück und lassen uns noch ein wenig besser gelaunt und erwartungsfroh in den Tag starten.
Vom Indian Coffee House sind es nur wenige Schritte in eine andere Welt. Keine fünf Minuten nach der gepflegten Tasse Earl Grey finden wir uns im "richtigen" Indien – dem Lower Bazar – wieder. Der Trubel, der Lärm und die Geschäftigkeit stehen im heftigen Widerspruch zum langsamen Treiben auf Mall und Ridge und laden zum Staunen, Feilschen und Erwerb des ein oder anderen Mitbringsels ein. Von kleinen Götterfiguren, über feines Tuch aus Yakwolle, bis hin zu Lederwaren aller Art findet hier ein jeder sein ganz persönliches Lieblingsstück. Und auch kulinarisch hat der Basar so einiges zu bieten: Durch die vielen Exilanten der Gegend, hebt sich das Angebot von anderen indische Regionen ab und wir dürfen ausgiebig von tibetischen Teigspeisen wie Momo und Co. kosten. Zurück auf der Mall wartet nach einer Viertelstunde Fußweg, vorbei an baufälligen, morbiden Charme ausstrahlenden kolonialen Chalets, das prachtvollste Gäude der Stadt auf uns: die Viceregal Lodge.

Die heute offiziell Rashtrapati Niwas genannte, im jakobethanischen Stil errichtete, Sommerresidenz der britischen Vizekönige liegt in den Observatory Hills und war Schauplatz verschiedener historischer Ereignisse, denen sich eine Ausstellung im Inneren widmet. In den Räumen und im gepflegten, weitläufigen Garten können wir gerade im Sommer sehr gut nachempfinden, warum die komplette britische Regierung von 1834 bis 1903 (dem Jahr der Fertigstellung des Toy Trains) Jahr für Jahr in den heißen Monaten den beschwerlichen Weg von Delhi nach Shimla auf sich nahm. Es muss ein gleichzeitig beeindruckender wie bizarrer Anblick gewesen sein, wie die endlose Karawane aus Beamten und Trägern, samt aller Akten und Gepäck, die Berghänge hinaufzog, um der Hitze zu entfliehen. Der letzte Vizekönig der schlussendlich den umgekehrten Weg nahm, war übrigens Louis Mountbatten, 1. Earl Mountbatten of Burma, der unter anderem hier über die Teilung Indiens verhandelte. Ihm und dieser Geschichte wird im Film "Der Stern von Indien" ein cineastisches Denkmal gesetzt.
Den Abschluss unseres zweiten Tages im Schaufenster Britanniens soll dann aber doch wieder daran erinnern, in welchem Land wir uns eigentlich befinden: Am Fuße der riesigen Hanuman-Statue, auf dem höchsten Punkt der Stadt, erwartet uns am Jakhu-Tempel, neben einem gerade zum Sonnenuntergang fantastischen Ausblick, eine ganze Bande diebischer kleiner Affen, die sich einen Spaß aus dem Diebstahl von Brille & Co, machen. Vorsicht ist also geboten, während man den Blick und die Gedanken schweifen lässt! Um diese letzten Eindrücke reicher, geht es zurück ins Hotel und am kommenden Tag mit dem Pkw zum nächsten Etappenziel, das wieder seine ganz eigenen Geschichten zu erzählen weiß ...
Sie haben Lust auf Shimla bekommen? Sprechen Sie und an. Im Rahmen einer Nordindien-Reise, beispielsweise mit Stationen in Agra, Amritsar, Delhi, Jaipur und Chandigrah – der Stadt Le Corbusieres – bietet der Ort einen spannenden Kontrapunkt.

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